Possenreißer auf Liebknechts Grab

20190714_121651Sie tragen rote, grüne oder gelbe Leibchen, gern auch Käppis in der entsprechenden Farbe und blasen alle paar Sekunden mit einer Intensität in rote, grüne oder gelbe Trillerpfeifen, als würden sie beim großen Benjamin-Blümchen-Ähnlichkeitswettbewerb um den Finaleinzug kämpfen. Nein, hier ist nicht Rede von Kita-Kindern, die einen Ausflug in den Erse Park Uetze unternehmen, sondern von Erwachsenen, die im Namen des Deutschen Gewerkschaftsbundes oder einer seiner Teilorganisationen eine Demonstration veranstalten – oder das, was sie für eine Demonstration halten.

Der Ausdruck Konfrontation sagt diesen Menschen nichts; eine Störung der öffentlichen Ordnung, etwa durch das Blockieren von Plätzen, Straßen oder gar Autobahnen, ist für sie unvorstellbar. Sie wollen einfach beisammenstehen wie eine Herde Gnus und mithilfe all der vorgefertigten Teile aus dem DGB-Protestbaukasten (inklusive maschinell gedruckter Pappschilder, die ihre Botschaften transportieren) ebenso höflich, wie ungelenk darauf hinweisen, dass sie ein Anliegen haben (und ganz nebenbei auch noch ein fröhlicher, bunter Haufen sind). Was für ein Anliegen genau, ist dabei letztlich nicht wichtig. Zumindest scheint es so. Der deutsche Gewerkschafter muss eben immer mal wieder raus an die frische Luft und dort Forderungen postulieren, natürlich am liebsten unter Zuhilfenahme der eingangs erwähnten Trillerpfeifen. So verlangt es einfach die Tradition. („Mama, was wollen diese Leute?“ „Pfeifen, mein Kind. Die wollen nur pfeifen.“)

Dass es in früheren Zeiten (oder in anderen Ländern auch heute noch) beim Kampf für Arbeitnehmerrechte um Leib und Leben ging (oder geht), dass ganze Fabriken besetzt wurden oder mal ein Strohballen auf dem Asphalt brannte, für den teutonischen Gewerkschaftsfolkloristen so unvorstellbar wie ein Tinder-Date für den mittelalterlichen Minnesänger. Solange sich an dieser Einstellung nichts ändert, gilt für DGB-Demos das Prädikat so sinnbefreit und ästhetisch fragwürdig wie der Hamburger Schlagermove. Bring mir mal die Pfeife, Harry!

Nichtraucher

In der guten alten Zeit wurden im Winter die Küchenfenster von innen mit Plastikfolie abgedichtet und während du am Tisch deine Schularbeiten erledigen musstest, zündeten sich deine beiden Großtanten eine Zigarette nach der anderen an. Auch im Auto wurde munter geraucht (völlig egal, ob Kinder auf der Rückbank saßen). Und im Flugzeug sowieso. Ganz besonders berüchtigt waren in dieser Hinsicht Flüge nach Mallorca, wurden hier doch nicht selten gleich mehrere Sitzreihen von sogenannten Kegelclubs eingenommen, die vom Start bis zur Landung, soffen, herumkrakelten und natürlich rauchten.

Nur ein paar Jahrzehnte später hat die freudlose Gilde der Nichtraucher das Regiment übernommen. Schieb heute mal ein Kind in der Karre durch die frische Luft und zünd dir dabei eine an oder setz dich mit einer Kippe auf den Spielplatz – es wird nicht lange dauern, bis sich eine Stimmung breitmacht, die Lynchjustiz nicht ausschließt.

Schuld an diesem bedrückenden Zustand ist ein Irrtum: Nichtraucher leben in dem Glauben, sie würden gesünder sterben. Aber der Tod ist nur in den seltensten Fällen ein spaßiger Event, ganz egal, ob die ihm mit einem Glimmstängel im Maul oder einem Stock im Arsch gegenübertrittst. Es ist also gänzlich umsonst, sich um den größten aller Genüsse zu bringen: dem völlig sinnentleerten Inhalieren von Giftstoffen.

Sollen doch die Verweigerer von Nikotin, Kondensat und Teer bis ans Ende ihrer Tage in virtuellem Weihrauch baden. Spätestens wenn sie uns in der Hölle um Feuer bitten, werden sie erkennen, wie peinlich sie sind.

Vergleichbar peinlich sind nur noch Raucher.

Der Poplinke

Er erklärt uns Dinge, die wir gar nicht erklärt bekommen wollen. (Denn: Warum einer Sache den Zauber nehmen, die sich bis dahin einfach nur geil angefühlt hat?) Aber er kann nicht anders. Sobald irgendwo eine Bewegung ihr Haupt erhebt, die auch nur ansatzweise den Anschein erweckt, sie könne kulturelle oder gesellschaftspolitische Veränderungen anstoßen, stürzt sich der Poplinke auf sie und versucht ihr, soweit seine Zahnspange es zulässt, Fleisch aus dem Körper zu reißen.

Möglicherweise wäre er selbst gern Teil dieser Strömung. Aber mit dem Poplinken wollte schon auf dem Pausenhof niemand etwas zu tun haben. Und so bleibt ihm auch heute nur wieder die Rolle des stillen Beobachters. Akribisch füllt er sein Körbchen mit Fakten, wobei es kaum etwas gibt, das ihm als zu unwichtig erscheint. Im Normalfall wird am Ende ein Buch draus, gern mit endlosen Fußnotenmoränen, mit denen der Verfasser das Feuilleton beeindrucken möchte. Das Unberechenbare, Wilde, Lebendige (seines Forschungsgegenstands) ängstigt ihn und so bereitet es dem Poplinken ein geradezu perverses Vergnügen, die aufkeimende, wild wuchernde Bewegung in eine tote Form zu gießen. Wenn ihm selbst schon kein echtes Leben geschenkt worden ist, brauchen die anderen auch nichts, was vital genannt werden könnte.

Verirren sich aber zum Beispiel mal Nazis vor die entsprechenden Verlags- oder Redaktionstüren, fällt dem Poplinken ganz schnell wieder ein, dass mit Analyse und Kritik allein nicht jedes Problem gelöst werden kann. Dann verlangt auch er, wie alle Kaffeehausrevoluzzer, plötzlich ganz laut nach der Antifa. Drücken wir ihm die Daumen, dass sein Ruf Gehör findet.

Menschenwürdefresser

Gut möglich, dass es auf diesem Planeten erwachsene Mitbürger gibt, die schon immer mal als Riesenbockwurst, Prinzessin-Lillifee-Imitat oder Ganzkörperkondom durch belebte Straßen ziehen wollten. Viele werden es allerdings nicht sein, ganz sicher nicht mehr als einer von dreißigtausend.

Warum also sind dann vor allem an Wochenenden auf den einschlägigen Partymeilen deutscher Großstädte alle paar Meter arme (Riesenbock)Würstchen zu entdecken, die in den eben benannten und weiteren, ähnlich schlimmen Kostümen unterwegs sind? Sie bieten Küsse feil oder Kleine Feiglinge, meist gegen einen Betrag von einem Euro. Und vielleicht verbirgt sich hinter dieser Geste ja genau das Geheimnis des Phänomens. Dass sich also hier, an diesem realitätsfernen Ort, kleine Feiglinge endlich das getrauen, von dem sie insgeheim schon lange geträumt haben, nämlich dem unbeschwerten Austausch und der Einnahme von (Körper)Flüssigkeiten.

Oder verfolgt die dilettantische Scharade namens Junggesellenabschied ein ganz anderes Ziel? Ein hehres gar? Nämlich dem Optimierungswahn ein Schnippchen zu schlagen? Einfach mal scheiße aussehen, einfach mal den Mickie Krause in sich rauslassen? Gerecht geht es dabei ja auch noch zu. Denn die, deren Motto-Shirts im Vergleich zum Bräutigam einen Hauch weniger beschämend daherkommen, sind im Normalfall die, die in den nächsten Jahren entsprechend vorgeführt werden (oder schon vorgeführt worden sind.) Wobei als Argument gegen die Anti-Optimierungs-These die Tatsache spricht, dass der gemeinschaftlich begangene Gehirnzellen-Seppuku häufig genug generalsstabsmäßig geplant wird, oft von zwei- oder dreiköpfigen Teams, die Reisen bis nach Polen oder Kroatien organisieren. Klar, im Ausland lässt sich die publikumswirksame Blamage noch dreimal gelöster in Angriff nehmen.

Früher war der Pranger der Ächtung echter oder vermeintlicher Missetaten vorbehalten. Heute zahlen angehende Brautleute und ihr Gefolge Geld für die eigene öffentliche Bloßstellung. Vielleicht sollten sie neben Süßigkeiten und Partyschnäpsen – oder womit sie ihr Treiben sonst noch zu refinanzieren versuchen – Peitschen und andere Marterinstrumente in ihren Bauchläden vorrätig halten, die die Laufkundschaft dann getreu dem Motto „der Bockwurst die Pelle vom Leib ziehen“ direkt am lebenden Objekt ausprobieren darf.

Ringelpiez mit Vordrucken

Geld verschenken wollen sie nicht. Das ist ihnen zu unpersönlich. Sie wollen aber auch keine Fehler machen oder sind schlicht zu faul, um loszuziehen und sich durch das Gewühl in den Fußgängerzonen oder das Überangebot des Onlinehandels zu kämpfen. Also besorgen sie Gutscheine von Douglas, Saturn oder Amazon.

Und so stehen sie dann vor dem Weihnachtsbaum und stecken sich mit allerlei Firlefanz verzierte Umschläge zu, in denen sie die benannten Coupons verschämt zu verbergen versuchen. Ehrlicher wäre es, sie würden sich allesamt gegenseitig 50€-Scheine überreichen, oder noch besser: sich im Kreis aufstellen und einen einzigen Fuffi von Hand zu Hand wandern lassen, bis der, der ihn hervorgeholt hat, den Schein wieder zurück ins Portemonnaie steckt.

Vielleicht ließe sich das Ganze auch als Spiel gestalten, eine Art modernes Spießrutenlaufen: Alle Geschenkgutscheinverschenker bilden eine Gasse, dann spaziert jeder der Beteiligten einmal hindurch und lässt sich von den anderen mit dem jeweiligen Umschlag kräftig das Gesicht abwatschen. So gibt es zwar immer noch keine individuellen Präsente, aber wenigstens Spaß und Schmerz. Und gerade der Letztere wird ja nicht selten als hochgradig persönlich empfunden.

Kaffeetrinker

„Alter, ich bin völlig im Arsch“, stöhnen sie, „ich brauch erst mal ’nen Kaffee.“ Und wenn du ihnen dann ein, zwei Tassen aufgebrüht hast – entkoffeiniert versteht sich (denn: ein bisschen Spaß muss sein) –, stöhnen sie wieder, wohlig diesmal. „Ja, Mann, jetzt geht’s mir besser. Ohne Koffein läuft bei mir gar nichts.“

Überall siehst du sie, die Geiseln der Bohne, vor allem in den Morgenstunden, wie sie mit ihren – mal mehr, mal weniger umweltschonenden – Bechern U-Bahnen, Busse und Gehwege in Firmenkantinen oder Großraumbüros zu verwandeln versuchen. Ihre Botschaft: „Ich bin busy, ich schlafe zu wenig, aber hey, ich kämpfe tapfer dagegen an. Und zu allem Überfluss verstehe ich mich auch noch darauf, Geschäftigkeit und Genuss zu verbinden.“

Kaffee, das ist für sie: Urbanität, die Großstadt, am besten New York, am besten ein In-Viertel. Aber natürlich auch: Kreativität, die einsamen, durchwachten Nächte, die Konzentration auf DAS Projekt.

Dabei ist Kaffeetrinken in Wahrheit die Sucht der Feiglinge. Sie wissen, das Zeug ist weder verboten noch wirklich gesundheitsschädigend. Gleichzeitig aber wollen sie uns mit ihrem Dauerkonsum signalisieren: „Seht her! Ich geb’s mir hart. Ich kippe das giftige Gebräu, als gäb’s kein Morgen mehr.“

Höchste Zeit für eine Kaffeepause, also für eine Pause VOM Kaffee. Sollen die Übermüdeten, Gestressten und Rastlosen einfach mal hundert einarmige Liegestütze machen, am besten auf den Fäusten. Dann geht das alles auch mal ohne.

Schaumschläger der Lüfte

Während wir anderen banal ins Flugzeug steigen, um banal von a nach b zu reisen, am besten noch, um dort banal Urlaub zu machen, sind sie mit dem Flieger unterwegs. Denn Flieger das sind sie ja selber, also Überflieger. Sie sind wichtig, sie werden gebraucht. Und so fliegen sie, während wir anderen flugzeugen. Sie leben gewissermaßen im Airbus. Zumindest haben sie das mal. Oder sie wollen noch.

Selbstüberhöhung durch Sprache. Jeder kennt das. Der Profi ruft natürlich die Spusi, nicht die Spurensicherung. Der zeitgeistbewusste Checker hat selbstredend einen Bro oder eine Sis, keinen besten Freund oder eine beste Freundin.

Aber wie immer existiert auch das Gegenteil. Wir Schriftsteller beispielsweise reden gern vom LiteraturBETRIEB, um zu verschleiern, dass wir uns nie die Hände schmutzig machen müssen, um so zu tun, als wären wir ebenfalls ehrliche Arbeiter. Gleichzeitig reitet uns aber auch die Großkotzigkeit. Zum Beispiel wenn wir, kaum dass wir den Markt mit einem weiteren Buch gefüttert haben, von einem neuen Werk reden, ganz so, als hätten wir mit den hundertachtzig Seiten nichts weniger als einen Fabrikkomplex erschaffen, mindestens einen geistigen Tempel von zeitloser Bedeutung, keinen Schmöker, der dir den nächsten Klo-Gang versüßt.

Und damit genug davon. Ich muss los. Der Flieger nach Kapstadt wartet.

Reklametafeln der Nutzlosigkeit

Das erste, was ich aus meinem Leben entfernt habe, nachdem die elterliche Gewalt keine vollständige Verfügung mehr über mich hatte, war die Armbanduhr. Warum etwas mit dir herumschleppen, das dich in jedem Augenblick an so lästige Dinge wie Schlafengehen, Schule oder Friseurbesuche erinnert? Dass ich mit diesem Gedanken nicht alleine war, beweist der Umstand, dass der am Leib getragene Sklavenhalter irgendwann in den 1990ern auch aus dem öffentlichen Raum verschwand. Zumindest weitestgehend. Denn natürlich gibt es immer diesen Typ des ewigen Beamten, der ohne Zeitmessgerät am Handgelenk Schnappatmung, Sehstörungen und schwerste Hautirritationen bekäme. Aber der war eben in der Minderheit. Und das plötzlich gut erkennbar.

Nun aber ist das unselige Accessoire ins allgemeine Bewusstsein und damit in den Alltag zurückgekehrt. Und es stellt sich die Frage, nach dem warum. Warum gerade jetzt, wo doch jeder ein Handy besitzt, auf das er ohnehin alle zehn Sekunden schaut? Warum, wo doch auch heute noch allerorten Uhren hängen, die die Welt aussehen lassen wie eine Fertigungshalle von Volkswagen?

Natürlich geht es um Mode, um Mode und Status. Status in gleich zweierlei Hinsicht. Denn während sich die einen mit einer Breitling für 20.000 € blamieren, lassen sich die anderen mit einem Chronometer aus Holz und Stein für ihre Verdienste in Sachen Nachhaltigkeit feiern.

Aber wieso dann nicht einfach ein Panzerarmband aus purem Gold, meinetwegen ein halbes Kilo schwer (für die einen) oder ein edles Designerbändchen mit dem Logo von Greenpeace oder dem WWF (für die anderen)? Wofür braucht es das Ziffernblatt, das Uhrwerk, das Gehäuse?

Gerade in dieser Sinnlosigkeit verbirgt sich das perfide Geheimnis der Armbanduhrenträger. Denn letztlich geht es ihnen darum, uns, die wir unser Geld lieber für Bücher, Konzerte und Bier ausgeben, zu provozieren. Schaut her, wir leisten uns den totalen Mumpitz, bald tragen wir Mausefallen oder Fliegenfänger am Unterarm, wollen sie uns sagen.

Ihre Uhr ist eine Aufforderung. Eine ständige Einladung zum Diebstahl. Tun wir ihnen den Gefallen. Reißen wir sie ihnen ab, schmelzen wir die verwertbaren Bestandteile ein und fertigen hübsche Spucknäpfe oder Bettpfannen daraus. Die werden immer gebraucht.

Zeigefreudig(e) im Brötchentunnel

Sie stehen vor dir beim Bäcker und wollen, ganz banal, zwei Croissants und eine Laugenstange kaufen, zeigen aber bei jeder Bestellung mit dem Finger ostentativ auf das gewünschte Produkt, als würde es sich beim Verkäufer um einen gehirnamputierten Ochsenfrosch handeln, der die Landessprache nicht beherrscht.

Machen diese Ochsenfroschsemmeln das immer so? Zeigen sie beispielsweise auch beim Sex überallhin? Frei nach dem Motto „da will ich reinstecken, da möchte ich lecken, daran will ich rumspielen“? Wovor fürchten sie sich? Dass ihnen das Verkaufspersonal am Ende zwei Franzbrötchen und ein Hörnchen in die Tüte packt? Vertrauen sie ihren Sprechwerkzeugen nicht? Und selbst wenn sich mal ein Versehen ergeben sollte, ließe sich das nicht wieder rückgängig machen? („Entschuldigung, ich wollte zwei CROISSANTS.“)

Keine Frage, das Verhalten dieser Spezies ist hochgradig infantil. Aber gerade hier, also im Infantilen, liegt wohl die Erklärung. Offenbar aktiviert der Anblick der Backwarenvielfalt ein altes Trauma, sind die Freunde der zeigefingergestützten Bestellung von ihren Rabeneltern einst in viel zu jungen Jahren zum Bäcker geschickt worden, um dem verkaterten Pack eine opulente Auswahl an Spezereien zu besorgen. Und da standen sie dann, schüchtern, überfordert und mundfaul und wussten sich nicht anders zu behelfen, als … Das verdient ohne Zweifel Mitleid. Aber für Mitleid fehlt mir die Zeit, wenn ich morgens um halb sieben endlich eine hohe Dosis Koffein in meine Blutbahn transferieren möchte.

Vorschlag zur Güte: Die armen Hascherln dürfen beim Bestellen weiter die Hände benutzen, unterlassen dabei aber das Sprechen. Dann denken Personal wie Kundschaft, dass sie einen Taubstummen vor sich hätten, und fühlen sich nicht länger für dumm verkauft, respektive belästigt. Darauf ein Stück Spritzgebäck!

Wenn Ausfluss zum Einfluss wird

Hinter ihnen verwandelt die Sonne das Meer in flüssiges Lava; aber sie können das Schauspiel nicht genießen, sind vielmehr damit beschäftigt, der Kamera den perfekten Gesichtsausdruck anzubieten oder am Träger ihres Tops herumzuzuppeln (das partout nicht richtig sitzen will). Vor ihnen auf dem Tisch steht eine Tasse Cappuccino, von einem Weltklassebarista meisterlich zubereitet und verziert. Sie lassen ihn kalt werden, weil erst noch die Beleuchtung korrigiert werden muss.

Sie könnten dies oder das tun, könnten Eindrücke sammeln, sich austoben, kreativ sein, sie könnten gar eine Liebesbeziehung mit Leben füllen, wenn nicht alle paar Minuten innegehalten und der jeweilig Boy- oder das jeweilige Girlfriend gezwungen werden müsste, auf den Auslöser zu drücken: Influencer – der Auswurf der Hölle, die Scharlatane der Jetztzeit, die größten Blender seit Bhagwan.

Sie kreieren eine Mischung aus Simulation (immerwährender Genuss/ewiges Glück/unverwüstliche Schönheit) und echten Elementen (ein endloser Ozean aus überschätzen Klamotten, unnötigen, überteuerten Pflegemitteln und sonstigen Konsumartikeln).

Würden sie das Endprodukt ihrer Aktivitäten, also ihre Fotos und Filmchen nur im kleinen Kreis verbreiten (ähnlich dem einstmals berüchtigten Dia-Abend), könnte man sie belächeln. So aber müssen sie sich den Vorwurf gefallen lassen, eine ganze Generation ins Verderben zu führen, indem sie so tun, als könnten wir alle am vermeintlich schönen Leben teilhaben, ohne an den Grundfesten des Systems zu rütteln.

Die Frage ist nur: Wo ist das Gegengift für diese Plage? Vielleicht könnte der Selfiestick Aufschluss geben – wenn man ihn denn wie ein Fieberthermometer einführt.