Hänger mit Verpackungsproblemen

Während meiner Zeit in der dritten, vierten Klasse gab es ein paar Mitschüler, deren T-Shirts oberhalb des Brustbeins kleine, aufgescheuerte Stellen aufwiesen. Hervorgerufen durch Schlüssel, die diese Kinder, da es zu Hause niemanden gab, der ihnen nach Schulschluss hätte die Tür öffnen können, tagtäglich um den Hals tragen mussten.

Zumeist wurden diese, Schlüsselkinder genannten, Geschöpfe allumfassend bedauert. Was mich im Nachhinein überrascht. Denn ist es wirklich so schlecht, die Mittags- und Nachmittagsstunden ohne elterliche Aufsicht zu verbringen? Das Essen war im Normalfall vorgekocht, musste also nur noch aufgewärmt werden und schmeckte daher sicher nicht schlechter als anderswo. Dafür konntest du zu Hause nach Herzenslust herumtoben, die Vorratsschränke nach Süßigkeiten durchstöbern und so unangenehme Themen wie Schularbeiten leichterhand verdrängen.

Umgekehrt proportional verhält es sich heutzutage mit Menschen, die, sobald sie den öffentlichen Raum betreten, ihrerseits (und das sogar am Wochenende) etwas um den Hals hängen haben, das zwar keine Beschädigungen an der Kleidung verursacht, dafür aber deutlich präsenter ist. Die Rede ist, wie könnte es anders sein, vom Handy.

Die entsprechende Gruppe, nennen wir sie die Smartphone-Schranzen, wird so gut wie gar nicht bemitleidet. Und das ist doch seltsam.

Denn warum präsentieren sich diese Leute so? Würden sie, wenn bei einer langen Wanderung mit hoher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen ist, dass sie in den Wald scheißen werden, auch eine Rolle Klopapier sichtbar spazieren führen? Würden sie im Falle einer akuten Krankheit, bei der stündlich Tabletten eingeworfen werden wollen, die dazugehörige Medikamentenpackung an einer Halskette befestigen?

Nein, das würden sie nicht. Denn natürlich geht es hier einzig und allein um das Vorführen von Statussymbolen. Und dieses Verhalten wiederum lässt im Normalfall entweder auf ein übersteigertes oder ein gänzlich verkümmertes Ego schließen.

Wie aber gehen wir nun mit diesen Mitbürgern um (die man, obwohl das natürlich das Leichteste wäre, nicht alle in den GULAG stecken kann)? Ganz einfach. Da sie sich (ähnlich wie SUV-Besitzer) so dringend nach Aufmerksamkeit und Anerkennung sehnen, werden wir sie überall dort, wo wir ihnen begegnen, mit Komplimenten überschütten. Und zwar massenhaft.

„Oh, Gott, ist das ein schönes Handy! Sind da Swarovski-Steine drauf? Ich flippe aus! Und diese Kette. Ist die aus Echtgold? Darf ich die mal anfassen? Bitte!“

Ich gehe davon aus, dass sich die Angelegenheit nach spätestens sechs Monaten erledigt hat.

Genaueres gern gelegentlich

In den Sechzigerjahren gab es einen Sketch von Heinz Erhardt und seiner damaligen Bühnenpartnerin Herta Worell, in dem einzig und allein Worte vorkommen durften, die mit dem Buchstaben g beginnen. Herausgekommen sind dabei so legendäre Dialoge wie:

(Sie): „Getränk gefällig?“

(Er): „Genialer Gedanke. Gerade Gewürzgurken gegessen.“

Als würde man den Zauber dieser Kunstfertigkeit noch einmal neu aufleben lassen wollen, grassieren sechzig Jahre später zwei Wörter im allgemeinen Sprachgebrauch, die ebenfalls das g im Anfang tragen, nämlich gern und genau. In beiden Fällen muss allerdings konstatiert werden, dass jedem Zauber auch ein kleiner Horror innewohnt.

Während das genau gerade noch als simples Füllwort aka gestammelter Satzanfang durchgehen kann; vergleichbar etwa dem früher gebräuchlichen öhm, äh, ja, weiß nicht, also am Ende einfach nur enervierend wirkt, besitzt das gern mit seinem unterschwelligen Aufforderungs-, ja oft schon Befehlscharakter bereits etwas unangenehm Bedrohliches.

So darf zum Beispiel ein Plakat mit der Aufschrift Im Hof findet heute ein Kinderflohmarkt statt. Es gibt Muffins und selbstgemachte Limonade. Kommt gern dazu. nicht etwa derart verstanden werden, dass erscheinen mag, wer Lust und Laune verspürt. Vielmehr lautet die Botschaft hinter der im studentischen Milieu geborenen Floskel: „Verfrachtet eure Ärsche gefälligst dorthin und kauft den Ramsch beziehungsweise Mampf, ihr herzlosen Pfeifen. Oder wollt ihr, dass die lieben Kleinen am Ende traurig nach Hause gehen?!“

Wie wollte ich weitermachen? Genau. Ähnlich verhält es sich mit Sätzen wie seid gern dabei („es fehlen noch Preise für die Tombola“), meldet euch gern („freiwillige Helfer gesucht“) oder (als Krönung des Ganzen) lasst uns super gern ein Like da (neueröffneter Bubbletea-Laden). Auch hier ist der Subtext glasklar: „Mach mit, sonst setzt es was! Und das zu Recht. Denn das, was wir tun, ist wichtig. Und wer das nicht einsehen will, gibt sich mit sofortiger Wirkung als antisoziales Arschloch zu erkennen.“

Wie aber nun zukünftig mit derlei „Einladungen“ umgehen? Ganz einfach: Überall, wo ein gern drin- oder draufsteht, ersetzen wir es kurzerhand durch ein ungern. Der entsprechenden Pflichtveranstaltung voller Vergnügen fernzubleiben, ist danach nichts weiter als ein Gebot der Logik.

Gern geschehen.

Schafe im Wolfsmagen beziehungsweise linke Querfrontler

Veganer und Fleischfresser haben einen nicht zu leugnenden Berührungspunkt: Beide wollen Nahrung zu sich nehmen. Aber schließen sie sich deshalb zu einer Interessengemeinschaft zusammen? Selbstverständlich nicht. Ähnlich, aber vom Ergebnis her deutlich anders verhält es sich bei Vertretern des Querfrontgedankens. Auch hier gibt es eine „vegane“, also eine gefühlt fortschrittliche Fraktion sowie ihr Pendant, die rückwärtsgewandten Karnivoren. Obwohl beide Parteien, zumindest auf den ersten Blick, nur wenig miteinander gemein haben, sehnen sie sich dennoch nach einem universellen Verbund, der das Trennende mindestens minimiert, wenn nicht gar gänzlich aufhebt. Ihre Schnittmenge: die Sorge um das Schicksal des kleinen Mannes (vor nicht allzu langer Zeit auch deutscher Michel genannt) gepaart mit Verachtung für die bestehende Ordnung aka Establishment aka Weltjudentum.

Obwohl also der (latente) Antisemitismus und vielleicht noch die Begeisterung für jedwede Art von Führerkult beiden Gruppierungen inhärent ist, mutet die angedachte Mixtur mit Blick auf das politische System, das die jeweilige Seite propagiert, trotzdem bizarr an. Denn natürlich ist die Frage, ob am Ende Rasse oder Klasse das Zepter in der Hand halten, nicht ganz unerheblich.

Was also verspricht sich der Querfrontler von dem vermeintlichen Teufelspakt? Die Antwort ist bestechend simpel: nichts anderes als ein Zugewinn an Masse. Ein Zugewinn, der am Ende selbstredend der eigenen Partei zugutekommen soll.

Diese Hoffnung mag lachhaft erscheinen, wird aber verständlicher, wenn man sich den Umstand vor Augen führt, dass beide Gruppen mit ausreichend Sendungsbewusstsein „gesegnet“ sind. Demgemäß gehen sie im Falle eines Sieges der neugeschaffenen Phalanx ganz unbedingt davon aus, die gegnerische Fraktion alsbald von der Kraft ihrer Argumente überzeugen, also am Ende eine „Querfront“ in ihrem Sinne etablieren zu können.

Sollte das nicht gelingen, wovon schon jetzt zwingend auszugehen ist, werden die Rechten, während die Linken in ihren Debattierclubs noch um Kompromisse ringen, auf bekannte „Alternativlösungen“ zurückgreifen.

Linke Querfrontler müssen also wissen, dass sie, so ihre Sehnsucht irgendwann Erfüllung finden sollte, exakt den Weg gehen werden, den einstmals die SA unter Federführung der SS genommen hat. Dafür schon jetzt viel Erfolg.

Gipfelstürmer der Larmoyanz-Pyramide

Ihnen ist Unrecht geschehen. Vielleicht noch nicht mal ihnen selbst, sondern Menschen, die sie kennen und/oder zu ihren Vorfahren zählen. Schlimm genug. Anstatt nun aber alles daran zu setzen, dass eben diesem Unrecht der Nährboden entzogen wird, suhlen sie sich darin, türmen sie die Kränkungen – egal, ob echt oder gefühlt – zu Kleckerburgen wie Kinder am Strand.

Und wehe, ein anderer behauptet, eine größere Burg zu besitzen. Dann reagieren sie allergisch. Denn derlei darf nicht geduldet werden, schmälert doch die Wunden-Auflistung Fremder den eigenen Hoheitsanspruch in Sachen Klagerecht und Beschwerdeführung wie nichts anderes. Letztlich erzeugt das Beharren des Gegenübers auf seiner Pein gar neues Unrecht, schließlich belegt es nichts weniger als Missachtung und (absichtliche) Unkenntnis. Woraus, da sich der Gipfelstürmer der Larmoyanz-Pyramide nun zu erneuten Erklärungen genötigt sieht, eine dritte Stufe der Herabwürdigung erwächst.

Und so geht es dann, vor allem in den Untiefen der sozialen Netzwerke, hin und her, wird belehrt und gegiftet, während sich die Oberschicht bei einem Gläschen Hennessy entspannt zurücklehnt und den Umstand feiert, dass die Uneinigkeit der Unterdrückten ihre Herrschaft auch die nächsten Dekaden sichern wird.

Ein Innehalten wäre gut, ein Besinnen aufs Wesentliche, zum Beispiel auf das gute, alte „Unity“. Aber dafür sind die Fahrgäste im Kettenkarussell des Furors zu „aufgeweckt“, dafür haben sie zu viele ausgeklügelte Elaborate gelesen, macht es einfach zu großen Spaß, anderen von oben herab den Lauf der Welt zu erklären.

Wir lernen: Wer einmal vom Nektar der Selbsterhöhung gekostet hat, findet schwerlich zum Eintopf Massenbewegung zurück.

Literaturhörige

Für sie ist das Buch kein Gebrauchsgegenstand. Für sie ist das Buch ein Objekt quasireligiöser Begierde. Ganz egal, wie langweilig sie ein Werk finden, sie bringen es einfach nicht fertig, dasselbe in den Papiercontainer zu werfen. Selbst wenn sie bereits ab Seite 5 vor lauter Widerwillen das Lesen einstellen mussten, können sie dem Zwang nicht entkommen, das Buch anderen (geknechteten) Seelen zu überantworten. Und so wandert es in die „Zu-verschenken“-Kiste vor der Haustür, in die Umsonst-Box an der Ecke oder im schlimmsten Fall ins Internet, wo sich dann in erster Linie Medimops, Amazon und wie die großen Gebrauchtbuchhändler sonst noch heißen mögen, die Taschen damit füllen.

Was die Literaturhörigen dabei vergessen (zumindest die, denen es finanziell nicht allzu schlecht geht), sind die Autoren, also diejenigen, die ursächlich für die Produktion ihres Götzen verantwortlich zeichnen. Die nämlich müssen im Kapitalismus leider nach wie vor Miete zahlen, ihre Vorräte im Supermarkt auffrischen und wenigstens alle zehn bis zwanzig Jahre mal die Garderobe wechseln. Da pro Jahr und Person im Durchschnitt nur so und so viele Bücher gelesen werden, greift hier am Ende reine Mathematik. Nimmst du dir ein Exemplar aus der „Zu-verschenken“-Box, holst du dir zwei aus der Leihbücherei und beziehst ein weiteres über Medimöpschen, bleiben von sieben gelesenen Büchern drei übrig, an denen Autoren und Verlage Geld verdienen. Daraus folgt unweigerlich, dass sich der Literaturhörige durch seinen Verleih-, Verschenk- und Wiederverkaufsfetisch langfristig selbst das Wasser abgräbt. Verlage sterben weg, Autoren müssen umsatteln, bis schließlich nur noch Mundart-Krimis und erotischer Kitsch übrigbleiben.

Da sich das niemand ernsthaft wünschen kann (schon gar nicht die Sklaven unter der Buchdeckelknute), bleibt letztlich nur eine Lösung: Ab in den Müll mit dem eselsohrigen Zeug. Von mir aus auch in den Kamin oder den Ofen. Sicher, die Nationalsozialisten haben ebenfalls Bücher verbrannt, aber das war ein politischer Akt. Hier geht es um den Support von schreibenden Künstlern. Und was den betrifft, wollen wir uns von Nazis bitte nicht reinquatschen lassen.

Fäkalschleudern mit Reichweitenvorteil

Vor dem Siegeszug des Internets haben sie selten mehr als ein Dutzend Menschen erreicht, normalerweise Stammtischbrüder oder Zechkumpane ohne festen Saufsitz: Zellklumpen – meist männlich, meist älter –, die ihren Hass auf Minderheiten, ihre Furcht vor Veränderungen nicht für sich behalten können, die für ihren Kleinmut, ihre geistige Unbeweglichkeit also unbedingt ein Publikum brauchen. Wir wollen sie verbale Jauchespender nennen. Gewiss hat sich der ein oder andere dieser psychisch-inkontinenten Maulhelden zusätzlich als Leserbriefschreiber betätigt. Aber Leserbriefe besaßen selbst damals schon kaum mehr Relevanz als der mit Kreide hingekrakelte Penis auf der Rückwand einer Dorfschule.

Mittlerweile sieht das deutlich anders aus. Mit Hilfe des World Wide Web kann heute jeder Einsiedler zum Superspreader für Hass und Hetze werden. Das Netz wirkt hier wie ein Schokoladenbrunnen. Es pumpt den braunen Gedankenschleim aus den Tiefen des Jauchespenderdasein ans Licht und verbreitet ihn dann kaskadenartig von einer Ebene zur nächsten, stetig befeuert von weiteren Leichtgläubigen, die nur darauf lauern, jedweden Nonsens zu schlucken und während des Verdauungsvorgangs in ihrem Sinne zu „veredeln“. Womit sie jenen Schleichkatzen gleichen, deren Exkremente in luxuriösen Kaffeehäusern in aufgebrühter Form als Kopi Luwak kredenzt werden. Aufgrund der erhöhten Nachfrage findet die Produktion der ausgeschiedenen Kaffeebohnen mittlerweile übrigens in Käfigbatterien statt. Und vielleicht sollten auch die verbalen Jauchespender zukünftig in Käfigen gehalten werden.

Sinnstiftender aber wäre es wohl, wenn man die debile Bagage vor landwirtschaftliche Maschinen spannen und mit ihr vom Klimawandel bedrohte Felder beackern würde. Mit dem Geifer, den die gewöhnliche Fäkalschleuder minütlich verspritzt, ließen sich selbst verkarstete Flächen wieder in fruchtbare Böden verwandeln.

Schwervermittelbare Schwurbel-Ästheten

Mittlerweile sind sie medial wahrlich oft genug verwurstet worden: Menschen, die in dem festen Glauben leben, Bill Gates hätte ihr Klopapier mit einem vom nordkoreanischen Geheimdienst entwickelten Kontaktgift präpariert, das längerfristig den vollständigen Austausch der körpereigenen DNA zur Folge hat, und die deshalb vor dem Arschabwischen jedes Blatt Toilettenpapier in Alufolie wickeln, sogenannte Verschwörungstheoretiker also.

Was bisher allerdings noch viel zu wenig Beachtung gefunden hat, sind die Kostüme und Requisiten, in und mit denen das wundergläubige Volk Straßen und Plätze unsicher macht. Da ist viel Selbstfabriziertes dabei, aber natürlich auch allerlei, das für teuer Geld auf dem Eso-Markt erstanden wurde. Amulette in allen nur erdenklichen Formen, möglichst groß, damit sie auch von den vielen Blinden und Einäugigen erkannt werden, gern aus Werkstoffen, die gegen Handystrahlung, Chemtrails und andere Erfindungen des Bösen schützen, Mithril aus den Minen Morias etwa. Stirnbänder sind ebenfalls reichlich zu finden, schließlich lassen sich auch an denen magische Artefakte prominent platzieren. Daneben regieren Umhänge, knöchellange Gewänder, Knotenstöcke und Wünschelruten, überhaupt alles, was beim großen Miraculix-Ähnlichkeitswettbewerb zur Finalteilnahme berechtigen würde. Aber auch an indianischen und tibetischen Elementen herrscht kein Mangel. An Farben wird nur selten gespart, vor allem an der Farbe Buntdurcheinander.

Am beeindruckendsten jedoch sind die Schilder. Im heimischen Hobbykeller gefertigt und beschriftet weisen sie eine geradezu überbordende Fülle an Informationen auf. Denn die gewöhnliche Schwurbeldrüse hat viel mitzuteilen. Nicht selten geschieht es daher, dass sich die Buchstaben zum unteren Rand hin immer weiter ins Stadium der Unleserlichkeit bewegen. (Wir alle kennen das von Postkarten, unter die, oh Schreck, plötzlich noch eine Grußformel gequetscht werden will.) Häufig werden die Texte mit Fotos garniert. Gern von Gates, Merkel oder anderen „Volksverrätern“. Gern aus Illustrierten geschnitten. Gern mit Hitlerbärtchen oder Teufelshörnern verunziert. Nicht zu vergessen all die Galgen, Pyramiden und sonstigen Gerätschaften, die ihre Träger als verkannte Erfinder und Bastelgenies ausweisen. Und last, but not least die aufgenähten „Judensterne“ mit der Aufschrift Impfgegner.

Und so haben wir es bei den Aufzügen der Verschwörungsanhänger ausnahmsweise mit einer echten Verschwörung zu tun, nämlich mit einer gegen den guten Geschmack.

Auf dem Heiratsmarkt wären diese Härtefälle zweifelsohne nur mit Bonusgaben an den Mann oder die Frau zu bringen. Ich empfehle in dieser Hinsicht Sprengstoffgürtel oder Zyanid-Kapseln.

Die drei Milliarden Fragezeichen

Irgendwo haben sie mal gelernt, dass du deine Anhängerschaft am einfachsten bei der Stange hältst oder besser noch: gänzlich neue Follower generierst, wenn du deine Umwelt mit Fragen peinigst. Und so fragen sie dann – ebenso dreist wie gedankenleer – drauflos.

„Zieht ihr euch manchmal Klamotten an, bevor ihr aus dem Haus geht?“ „Was atmet ihr lieber ein? Sauerstoff oder Kohlendioxid?“ „Müsst ihr auch immer so hart heulen, wenn sich ein Promipärchen getrennt hat, dem ihr über all die Jahre so viel Inspiration und Lebensmut zu verdanken hattet?“

Das soll Interesse, schlimmer noch: menschliche Nähe suggerieren. Und obwohl diese Scharlatanerie in ihrer Dümmlichkeit in etwa der mittelalterlichen Hans-Wurst-Verarsche gleicht, die da lautete man könne die Knöpfe sämtlicher Hausbewohner in Golddukaten verwandeln, wenn vorher nur eine echte Dukate den Besitzer wechseln würde, leben auf unserem von knuddels.de, Berlin – Tag & Nacht und anderen Trostlosigkeiten beherrschten Planeten genug arme Schweine, die dann tatsächlich Antworten liefern.

Zur Belohnung für die ehrlichen, teils zeilenlangen Auskünfte gibt es im besten Fall ein Emoji – ein Herz, einen nach oben gereckten Daumen oder ähnliche „Ich-scheiß-eigentlich-auf-dich-will’s-dir-aber-so-direkt-nicht-sagen“-Schnellabfertigungssymbole.

Was nun aber tun, um sich gegen diesen ausufernden Blödsinn zur Wehr zu setzen? Ganz einfach: Solltest du jemals selbst zum Adressaten dieser perfiden Masche werden, stell Gegenfragen. Und zwar wieder und wieder. „Was isst du lieber? Orangen oder Apfelsinen?“ „Was ist dir wichtiger, die Form deines Grabsteins oder der Verlauf deiner Augenbrauen?“ „Ist es nachts kälter als draußen oder zu Fuß weiter als über den Berg?“ Und so weiter und so fort. Nur nicht nachlassen!

Selbsternannte Samariter der Abfallverwertung

Angeschlagenes Porzellan, Elektrogeräte aus grauer Vorzeit, ausgelatschtes Schuhwerk, CDs mit Titeln wie Die grausamsten Hits der 80er oder Der Original Marinechor „Blaue Jungs aus Bremerhaven“ singt die Nationalhymne der Schlümpfe – sie stellen Dinge auf den Bürgersteig, die andere längst in den Müll geschmissen oder brav zum Recyclinghof getragen hätten. Und da gammelt der Tinnef dann – von Laub, Hundekot und Regenwasser bald zu ganz eigenen Skulpturen aus der Abteilung Public Art verfremdet – vor sich hin, bis sich doch jemand erbarmt, das Zeug in die Tonne zu werfen, oder Kinder es als Spielgerät entdecken und schließlich auf Rasenflächen oder im Gebüsch verstreuen.

Das allein wäre schon schlimm genug. Anstatt sich nun aber redlich zu schämen, versucht der Resteverteiler sein schändliches Tun dadurch zu adeln, dass er das Gerümpel mit einem Zettel versieht, den die selbstherrliche Aufschrift zu verschenken verunziert. Ganz so, als würde er der Allgemeinheit einen Dienst erweisen. Als wäre er nicht faul, beziehungsweise – ganz im Stile eines Messieanwärters im dritten Lehrjahr – unfähig zu erkennen, dass Schrott selbst dann Schrott bleibt, wenn man ihn als gute Gabe deklariert, sondern als wäre er großzügig, ja nachgerade wohltätig.

Sollte diese Unsitte weiter um sich greifen, steht zu befürchten, dass irgendwann benutzte Kaffeefilter, volle Staubbeutel oder nicht minder gefüllte Windeln als zur Mitnahme ausgeschrieben vor Haustüren oder in Treppenhäusern auf uns warten.

Die einzige Möglichkeit, dem bigotten Treiben beizukommen, ist diese: Solltest du einen Unrat-Spender auf frischer Tat ertappen, nimm ihn mit in deine Wohnung und nötige ihm dort unter großem Getue diesen verschimmelten Linseneintopf auf, der schon seit ein paar Wochen im Kühlschrank campiert. Danach drückst du ihm die kaputte Vuvuzela in die Hand, die einer deiner Ex-Mitbewohner im Flur hat liegen lassen, und bedenkst ihn zu guter Letzt mit einer Hand voll leerer Batterien.

Bevor du den Schmock wieder entlässt, klopfst du ihm gönnerhaft auf die Schulter und empfiehlst dich mit einem jovialen da nich‘ für.

 

Alle Körper sind gleich, aber manche sind gleicher

Die Idee, die sich hinter dem Begriff Body Positivity verbirgt, ist ebenso naheliegend wie großartig, die dazugehörige Bewegung wichtiger denn je. Beides, also Idee wie Bewegung, verkommt jedoch zur bloßen Karikatur, wenn auch Menschen, die so aussehen, als würden sie sogar während des Nachtschlafs alle paar Minuten ein paar Sit-ups absolvieren, ihre perfekt gefilterten Fotos mit dem BP-Hashtag versehen, weil sie ausnahmsweise einen Mitesser hinterm rechten Ohr entdeckt haben. Die Botschaft dahinter: Seht her, ich bin selbst hässlich schön!

Klar, auch (oder gerade) diejenigen, die damit Ruhm und Geld zu ernten versuchen, dass sie dem herrschenden Schönheitsideal 1:1 entsprechen, wollen natürlich vom Aufmerksamkeitsmarktplatz Body Positivity nicht ausgeschlossen werden. Und genau aus diesem Missverhältnis heraus ist es dann auch zu erklären, dass ein so genanntes Plus-Size-Model wie Ashley Graham, die mit perfekter Sanduhrfigur und feingeschnittenem Gesicht nur wenig von der Norm abweicht, im Netz hauptsächlich mit positiven Kommentaren bedacht wird, während einer Frau wie Anna O‘ Brien, die ungleich mehr Kilos auf die Waage bringt, überwiegend blanker Hass entgegenschlägt.

Ähnlich dreist wie die anfangs benannte Kleiner-Makel-ganz-groß-Fraktion versuchen uns die zu verarschen, die sich mit verwuscheltem Haar oder ungeschminkt präsentieren, dabei so aussehen, als würden sie vom Plakat eines Hollywood-Blockbusters herablächeln, das Ganze aber als Beitrag zum Thema „du darfst so sein, wie du bist“ verkaufen wollen.

Natürlich gibt es Menschen, die selbst mit einem Pferdeapfel auf dem Kopf und einem Spritzer Kotze im Mundwinkel immer noch von Millionen anderen begehrt oder als liebreizend empfunden werden. Und natürlich darf es diesen Gesegneten nicht verboten werden, sich einer breiten Öffentlichkeit zu präsentieren. Sie sollten allerdings aufhören, so zu tun, als brächten sie ein Opfer, wenn sie mal ein Fältchen unterm Auge oder zwei leicht ergraute Haare zeigen.